Femizide

Doing Memory und Femizide in der öffentlichen (Un)Sichtbarkeit

Tanja Thomas

Die öffentliche Thematisierung und das Erinnern an die Opfer von Femiziden und Gewalt gegen Frauen* bilden trotz der Kampagnen wie ‚Orange the World‘ und internationalen Protestbewegungen wie ‚Ni Una Menos‘ somit vielfach einen Blind Spot: Nur an sehr wenigen Orten wird der Opfer öffentlich gedacht; sofern dies geschieht, meistens im Rahmen von Aktionstagen oder auf Initiative und durch ehrenamtlichen Einsatz von politischen Aktivist*innen.

Umso bemerkenswerter und wichtiger ist das Doing Memory an Opfer von Femiziden – an einzelne Opfer wie durch die Webdokumentation „Gegen uns“, die an die Ermordung von Marwa El-Sherbini im Jahr 2009 in Dresden erinnert, oder ein öffentliches Erinnern durch Aufrufe wie am internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen am 25. November 2021. In Tübingen wie an anderen Städten standen rote Schuhpaare auf öffentlichen Plätzen und erzählten von den Leben, den Erfahrungen und dem Tod von Frauen als Opfer eines Femizids:

Eindrücke von der Aktion „Rote Schuhe gegen Femizide“ in Tübingen, 25.11.2021

Denn Erinnern ist nicht nur eine Ausdrucksform der Trauer, sondern auch ein Weg, um öffentlich Aufmerksamkeit zu erzeugen, gesellschaftliche Auseinandersetzungen jenseits individueller Schuldzuweisungen zu befördern, politische Konsequenzen und gesetzliche Anpassungen einzuklagen und Ressourcen für Maßnahmen im Sinne des Opferschutzes, für Hilfestrukturen und Prävention öffentlich einzufordern und durchzusetzen.


Zum Verständnis des Begriffs

‚Femizid‘ – diesen Begriff hat die US-amerikanische Soziologin Diana Russell im Jahr 1976 zum ersten Mal beim „International Tribunal on Crimes against Women“ verwendet. Der Begriff steht, so erläutert sie immer wieder, für die „extremste Form sexistischen Terrors“ (Caputi/Russell 1992), und sie versteht darunter Tötungen aus Frauenhass und Verachtung oder weil sich Frauen* aus Sicht der Männer patricharchaler Rollenerwartung, männlicher Kontrolle und Dominanz entziehen.

Femizide bezeichnen nicht nur die extremste Form der Gewalt gegen Frauen* und Mädchen, sondern stellen auch eine der gewalttätigsten Manifestationen einer rechten Ideologie der Ungleichwertigkeit dar – auch wenn nicht alle Täter eine geschlossen rechte Weltanschauung vertreten, so sind antifeministische Weltbilder in der deutschen Mehrheitsgesellschaft weit verbreitet; diese bestreiten und bekämpfen Begriffe, Ressourcen und Rechte von Frauen und LGBTIQ+. Der Begriff ‚Femizid‘ will entsprechend Gewalt gegen Frauen dezidiert als strukturelles Problem thematisieren; Liz Kelly hat schon im Jahr 1988 betont, dass diese extreme Form der Gewalt im Kontinuum von (Alltags-)Sexismus und sexualisierter Gewalt gegen Frauen* betrachtet werden muss.

Sexismus kann also als stabilisierende Ressource patriarchaler Strukturen und Gewalt gegen Frauen* verstanden werden. Als Sexismus sollten personale, epistemische/politisch-kulturelle, strukturelle wie institutionelle Formen von negativen Zuschreibungen, Haltungen, Abwertungen und Unterordnungen bis hin zu Gewalt gegen Mädchen* und Frauen* verstanden werden, gerade weil diese aufgrund des ‚Geschlechts’ Männern und Jungen untergeordnet gedacht und konstruiert werden (Leidinger/Thomas 2019). Sexismus dient einer Aufrechterhaltung einer patriarchalen gesellschaftlichen Ordnung (male supremacy) und befördert Hass und Gewalt, Femizide gegen Frauen. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit von Frauen wird also gestützt durch gesellschaftlich tradierte und weltweit verbreitete heterosexistische Ungleichwertigkeitsvorstellungen und -mechanismen, die vielfach strukturell und institutionell verankert sind und auch in medialen Diskursen und Fiktionalisierungen (Linke/Kasdorf 2021) (re-)produziert werden.


Fehlende Erfassung

Das vollständige Versagen staatlicher Behörden bei der Verfolgung und Bestrafung von Tätern in Mexico hob Marcela Lagarde (2006) hervor, indem sie den Begriff ‚Feminicidio‘ prägte , zu deutsch ‚Feminizid‘: Damit machte sie nicht nur auf den dramatischen Anstieg der extremen Gewalt gegen Frauen und Tötungen von Frauen insbesondere in der Stadt Ciudad Juarez aufmerksam. Der Begriff klagt den Mord an Frauen* auch als Staatsverbrechen an, das von öffentlichen Institutionen und Beamten toleriert wird. Mit der Verwendung des Begriffs wird betont, dass es notwendig ist, die staatliche Verfolgung von Tätern auch mit Blick auf die internationale Rechenschaftspflicht von Staaten für Menschenrechtsverletzungen zu forcieren.

In Deutschland gibt keinen eigenen Straftatbestand für Femizide, und gerade dies wäre hilfreich, da die Existenz des Gesetzes Sichtbarkeit für diese spezifische Gewalt aufbaut, eine Struktur schafft, die den Staat verpflichtet, Kapazitäten aufzubauen, die Justiz und die Polizei zu schulen ­– etwa indem man spezifische Ermittlungseinheiten und auch Gerichtsabteilungen für Femizide aufbaut sowie prozessuale Begleitung der Opfer und anderer Aussageregelungen zum Opferschutz entwickelt. Nur langsam kommt diese Debatte voran und auch öffentliche Aufmerksamkeit durch engagierte Fachanwält*innen wie Christina Clemm und ihre Publikationen wie „Akteneinsicht, Geschichten von Frauen und Gewalt“ zustande.

Partnerschaftgewalt in Deutschland. Aktuellere Daten sind noch nicht verfügbar. [Stand: 21.03.2022]

Folgen für Opferschutz, Strafbarkeit und öffentliche Wahrnehmung

Entsprechend ist auch die Datenlage zu Femiziden in Deutschland nach wie vor mangelhaft (vgl. hierzu die länderspezifischen Datenlagen, aufgearbeitet durch das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE).

Im Feld der Hasskriminalität generell können wir von einem Drittel nicht erfasster Straf- und Gewalttaten ausgehen – das erkennen wir entlang der Erhebungen des Kriminalistischen Instituts der BKA und das LKA Niedersachsen zu Viktimisierung und zu Motivlagen im Vergleich zu den Daten, die Opferberatungsstellen und journalistische Recherche zu Tage fördern. ‚Misognyie‘ ist für die offizielle Stellen keine Erfassungskategorie. Und was noch dramatischer ist: Auf eine Kleine Anfrage zur Incel-Szene erklärt die Bundesregierung im Jahr 2022, dass es in Zukunft auch keine Absicht gibt, Femizide als eigenen Phänomenbereich und Erfassungskategorie in die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) aufzunehmen. Und dabei wissen wir, dass Strafverfolgung sich nur verbessert, wenn Statistiken zu Tatmotiven vorliegen. Wir wissen, dass es die Fähigkeit von Strafverfolgungsbehörden schafft, Frauenhass zu erkennen, wenn sie es als Tatmotiv auf Formularen ankreuzen können. Und wir wissen, dass das auch die Bereitschaft der Betroffenen erhöht, Taten aus Frauenhass anzuzeigen.

Heike Kleffner, Leiterin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (im Interview mit Tanja Thomas am 17.02.2022)

Der Wille und die Kriterien zur Erfassung von Femiziden und die Datenlage sind unklar und das soll sich offenbar auch nicht ändern. Die Dunkelziffer ist hoch, Veränderungen der Opferzahlen sind daher schwer interpretierbar, der berechtigte Schutz der Opfer und Angehörigen verhindert zusätzlich die öffentliche Thematisierung.

Zudem wird geschlechtsspezifische Gewalt von den Medien oft verharmlost und aus dem Kontext gerissen: Wie Christine Meltzer (2021) in einer Studie zur medialen Berichterstattung über Gewalt an Frauen deutlich macht, werden Tötungsdelikte an Frauen* zwar dargestellt – und hier mit einem besonderen Fokus auf Gewalt, die von als ‚fremd‘ bezeichneten Tätern ausgeführt worden ist, obwohl dies im Verhältnis seltener vorkommt. Gewaltausübung durch aktuelle oder ehemalige Partner dagegen findet verhältnismäßig wenig Platz in der Berichterstattung. Zwar hat die dpa (Deutsche Presseagentur) im November 2019 bekannt gegeben, zukünftig auf solche Begrifflichkeiten zu verzichten, dennoch wird immer wieder aus einem Mord ein ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘, ein ‚Beziehungsdrama‘ oder eine ‚Familientragödie‘. Diese Wortwahl relativiert die Taten, macht betroffene Frauen implizit mitschuldig und verschleiert so systematische Gewalt an Frauen, ohne die Strukturen zu beleuchten, die diese Tötungen mit Besitzdenken oder geschlechtsspezifischen Erwartungen an das Verhalten von Frauen verbindet. Noch viel zu selten sind Handreichungen für eine verantwortungsvolle Berichterstattung.

Was sich verändert an der öffentlichen Wahrnehmung von Opfern von Frauenhass, ist auf die Arbeit von Beratungsstrukturen und etwa Anwältinnen wie Christina Clemm und Asha Hedayati zurückzuführen. Mit Blick auf die Opfer von rechtem, antisemitischen oder antimuslimischen Frauenhass ist die öffentliche Wahrnehmung gen Null. Dabei sind Frauen, die etwa aufgrund des Hijabs als muslimische Frauen erkennbar sind, massiver Gewalt ausgesetzt, die auch aus misogynen Motiven einhergeht. Und aktuell gibt es in der Szene der Coronaleugner misogyne Angriffe auf Journalist*innen. Und es gibt rechte Alltagsgewalt gegen Frauen, die intervenieren gegen frauenfeindliche Sprüche. Die Dimension, die das hat, wird öffentlich überhaupt nicht wahrgenommen.

Heike Kleffner, Leiterin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (im Interview mit Tanja Thomas am 17.02.2022)

Dank

Besonderer Dank gilt Heike Kleffner für die Bereitschaft zum Interview und viele weiterführende Hinweise!

Literatur

Caputi, Jane/Russell, Diana E.H. (1992): Femicide: Sexist Terrorism against Women. In J. Radford & D.E.H. Russell (eds.), Femicide. The politics of women killing New York: Twayne Publishers, 13-21.

Kelly, Liz (1988): Surviving Sexual Violence. Cambridge: Polity.
Leidinger, Christiane/Thomas, Tanja (2020): Sexismus. (Re)Aktualisierungen und Konjunkturen in der Frauenbewegung, Geschlechterforschung und medialen Öffentlichkeiten. In: dies./Ulla Wischermann (Hg.): Feministische Theorie und Kritische Medienkulturforschung. Ausgangspunkte und Perspektiven. Bielefeld: transcript, 275-292.

Weitere Hinweise zum Weiterlesen

AK Fe.In (2021): „Frauen*rechte und Frauen*hass: Antifeminismus und die Ethnisierung von Gewalt. Berlin: Verbrecher Verlag.

Backes Laura/Margherita Bettoni (2021): Alle drei Tage. Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen. München: DVA.

Defining und identifying femicide: A literature review.

Lastesis (2021): Verbrennt eure Angst! Ein feministisches Manifest. S. Fischer. Für weitere Informationen und bei Beratungs- und Hilfebedarf:

https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles.html

Weil Shalva/Consuelo Corradi/Marceline Naudi (eds.)(2018): Femicide across Europe. Theory, research and prevention. University of Bristol: Policy Press, online abrufbar unter library.oapen.org.