Antisemitische Figuren in der deutschen Literatur seit 1945
Matthias N. Lorenz
Der Antisemitismus war das zentrale Ideologem des Nationalsozialismus. Das pseudo-biologistische Begründungsmuster einer ‚jüdischen Rasse‘ fungierte über den Ausschluss der Jüdinnen und Juden innergesellschaftlich als Bindeglied der so genannten ‚Volksgemeinschaft‘ und lieferte in der politischen Rhetorik der NS-Propaganda immer wieder scheinbare Begründungen für Maßnahmen in allen Politikfeldern. Kein Bereich im nationalsozialistischen Staat blieb hiervon unberührt, Kultur-, Sozial-, Wirtschafts- und Außenpolitik, Gesundheits-, Rechts- oder Bildungswesen wurden entsprechend der antisemitischen Doktrin gelenkt und wirkten mit am Ausschluss und schließlich der Vernichtung des europäischen Judentums.
Die antisemitische Rhetorik erwies sich als so stark, dass der eliminatorische Antisemitismus sogar noch dann fortgeführt wurde, als das Deutsche Reich bereits zerfiel und die dafür eingesetzten Ressourcen andernorts dringend gebraucht wurden. Und selbst vier Jahrzehnte nach der Kriegsniederlage, im Historikerstreit des Jahres 1986, konnte der bis dato als seriös geltende Geschichtsprofessor Ernst Nolte in bundesdeutschen Leitmedien die These aufstellen, ‚Hitlers Taten‘ seien eigentlich nur die Antwort auf eine ‚Kriegserklärung der Juden‘ gewesen. Der die jahrhundertealte christliche Judenfeindschaft radikalisierende rassistische Antisemitismus war zweifellos das zentrale Ideologem des Nationalsozialismus und er hat die Zeitgenossen in hohem Grade und weit über die Kriegsniederlage hinaus geprägt.
Kaum antisemitische Täter:innenfiguren
Umso erstaunlicher ist es, dass die deutsche Literatur nach 1945 in West und Ost und auch nach 1989/90 kaum antisemitische Täterinnen und Täter als Figuren auftreten lässt und nur selten antisemitische Taten konkret beschreibt. Zwar war das Selbstverständnis der Autorinnen und Autoren in beiden deutschen Staaten nach dem Krieg demonstrativ ein antifaschistisches und die Ausrufung einer „Stunde Null“ nach dem totalen Zusammenbruch zeugte vom klaren Schnitt, den die Literatur zur jüngsten Vergangenheit zog. Doch die Träger des zentralen Ressentiments, das für die eben untergegangene und für die BRD bis heute als Negativfolie konstitutiven NS-Epoche prägend war, von der es sich scharf abzugrenzen galt – diese Träger des Antisemitismus blieben als literarische Figuren weitgehend unsichtbar; Blind Spots einer Literatur, die sich insbesondere in Deutschland doch eigentlich als kritische, die Gesellschaft beobachtende Instanz verstand.
Zumindest für die frühe Nachkriegszeit gilt, dass die Vorstellung, wer ein Antisemit ist, verkürzt wurde auf uniformtragende Nazi-Verbrecher, was dem Täterkollektiv auch in der Literatur die Auftrennung in ‚gute Deutsche‘ und NS-Verbrecher ermöglichte und insofern Teil einer deutschen Opfer-Rhetorik war. Ab den 1960er Jahren weitete sich die Perspektive zu einer Gesellschaftsanalyse der Mentalitäten und Bedingungen, die den NS ermöglicht hatten. Aber auch dann wurde der Blick nicht auf antisemitische Strukturen, sondern zum Beispiel in Peter Weiss’ Ermittlung (1965) auf den Kapitalismus gerichtet.
Dr. Saskia Fischer, Leibniz Universität Hannover, forscht „Zur Figur des Antisemiten in der europäischen Literaturgeschichte“
Die Verleugnung ‚des Antisemiten‘ ist nicht nur erstaunlich, weil damit eine in allen gesellschaftlichen Bereichen massenhaft ausgeübte Praxis der NS-Epoche beschwiegen wird, sondern auch, weil sich die deutsche Literatur seither ihrem Selbstverständnis nach ja an der Erinnerung und Aufarbeitung von Nationalsozialismus und Holocaust abarbeitet. Symptomatisch für das paradoxe Erinnern des NS bei gleichzeitigem Fernhalten antisemitischer Figuren ist etwa Alfred Anderschs Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957), ein Schulklassiker bundesrepublikanischer ‚Erziehung nach Auschwitz‘: Im Horizont dieses Romans tauchen die nationalsozialistischen Ideologieträger nur in nebulöser Ferne als „die anderen“ auf.
Während jüdische Autor*innen wie Ruth Klüger, Edgar Hilsenrath und Wolfgang Hildesheimer dem Fortleben des Antisemitismus nach 1945 in ihren Texten offen ins Auge sahen, findet man dazu bei so unterschiedlichen nicht-jüdischen Schriftstellern wie Heinrich Böll, Peter Handke oder auch dem ‚guten, linken‘ Arno Schmidt neben vordergründigen antifaschistischen Formeln viel Verdruckstheit und Ambivalenz.
Prof. Dr. Jan Süselbeck, Norwegian University of Science and Technology Trondheim, forscht zur Emotionsgeschichte des Antisemitismus
Auch 2002 noch führt Günter Grass in seiner Erfolgsnovelle Im Krebsgang einen vermeintlich antisemitischen Mord auf, dessen Aufarbeitung dann aber enthüllt, dass es hier weder ein jüdisches Opfer noch einen Täter mit antisemitischen Überzeugungen gab. Besonders bezeichnend für die Leerstelle antisemitischer Figuren sind aber jene Fälle, in denen Autoren diese tatsächlich einmal auftreten ließen: In einem Kurzschluss wurde der Antisemitismus der Figuren dann den Autoren selbst zugeschrieben oder aber behauptet, das deutsche Publikum sei hierfür noch nicht reif: so geschehen im Falle von Edgar Hilsenraths Roman Der Nazi & der Friseur (1971 in den USA), der daraufhin jahrelang keinen deutschen Verlag fand. Autoren, deren Werke den Antisemitismus aufzuzeigen versuchten, sahen sich öffentlich als Antisemiten bezichtigt, etwa Reiner Werner Fassbinder, dessen Stück Der Müll, die Stadt und der Tod (1975) nach entsprechender Kritik vom Suhrkamp-Verlag eingestampft und erst 2009 erstmals in Deutschland auf der Bühne gezeigt wurde.
Ausnahmen
Ausnahmen bestätigen die Regel: die Werke von Elfriede Jelinek oder Maxim Biller etwa. Insgesamt wirft aber der ‚Blinde Fleck‘ antisemitischer Figuren in der Literatur nach 1945 die Frage danach auf, welche Funktion diesem kollektiven Beschweigen im Diskurs um die Erinnerung an den Nationalsozialismus zukommt. Hier muss die germanistische Literaturwissenschaft aufklären, mit welchen ästhetischen Verfahren und Rhetoriken das in der Figur des Antisemiten kulminierende zentrale Ideologem der NS-Epoche weitgehend widerspruchslos in literarischen Narrativen der Tätergesellschaft neutralisiert werden konnte. Die Literatur wie auch die Literaturwissenschaft werden sich hierbei selbstkritisch beobachten und allzu bequeme Selbstbilder infrage stellen müssen.
Die Tür zwischen „uns“ und „den Antisemitinnen“ ist mindestens ungesichert. Die literarische Arbeit am Antisemiten ist folglich, wie jede Form der Selbstreflexion, gefährlich, entdeckt in sich wenigstens Spuren dessen, was unbedingt abgelehnt werden muss. Normalerweise erwehrt man sich dieser Verstrickung in das Böse durch Projektion: Nicht ich, sondern Du verkörperst es, weshalb ich mich des Bösen (auch in mir) erwehre, indem ich es in mir verleugne und in Dir bekämpfe. Von Literatur zu verlangen, Antisemitinnen aufzuzeigen, heißt, diese Projektion selbstreflexiv zu durchkreuzen. Literatur müsste die Verstrickung in ein zutiefst in unserer Kultur und Psyche verwachsenes Ressentiment ent-distanzieren, müsste es verständlich als Eigenes und doch universal Inakzeptables durcharbeiten. Tiefenscharf werden wir Antisemitismus nicht als Antisemitismus der Anderen, sondern nur als Antisemitismus der/des Eigenen verstehen.
Dr. habil. Klaus Holz, Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, Autor des Standardwerks „Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung“
Dank
Besonderer Dank gilt Dr. Saskia Fischer, Prof. Dr. Jan Süselbeck und Dr. habil Klaus Holz für die Bereitschaft zum Interview.