Behindertenfeindliche Gewalt

Extrem rechte Gewalt gegen Menschen mit (kognitiven) Beeinträchtigungen

Christiane Leidinger und Heike Radvan

Systematische Forschung zu extrem rechter Gewalt gegen Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es bislang nicht. In der stichwortartigen Aufzählung von Opfergruppen werden sie dennoch in den meisten wissenschaftlichen Beiträgen genannt. Als hinter den Morden stehendes, motivierendes Ideologem im extrem rechten Weltbild wird meist mit dem Begriff „Sozialdarwinismus“ operiert.

Aussagekräftige Zahlen zum bisherigen Ausmaß nicht-tödlicher rechter Gewalt gegen Menschen mit verschiedenen Formen von Beeinträchtigungen lassen sich bislang nicht angeben. Unter den Todesopfern beziehungsweise Verdachtsfällen rechter Gewalt sind den derzeit vorliegenden zivilgesellschaftlichen Listen und weiteren Recherchen zufolge seit 1990 in der Bundesrepublik zehn beziehungsweise elf – männlich gelesene – Menschen mit Beeinträchtigungen unterschiedlichen Alters, davon fünf oder sechs mit einer kognitiven Einschränkung. Hinzu kommt als zwölftes Todesopfer mindestens ein Suizid in der Folge verbaler Gewalt mit Todesdrohung, die auf NS-verherrlichenden und menschenverachtenden Aussagen basiert.

Die bislang bekannten Namen der getöteten Menschen lauten:

  • Wolfgang Auch (Angriffs-/Todesdatum: 16.9.1991 / 22.9.1991, BB),
  • Ibrahim D. (16.5.2020, NRW),
  • Jörg Danek (29.12.1999, LSA),
  • Hans-Werner Gärtner (8. 10.1999, LSA),
  • Klaus-Dieter Harms (9.8.2001, BB),
  • Hans-Joachim Heidelberg (24.10.1993, B),
  • Bruno Kappi (15.12.1992, NRW),
  • Klaus Dieter Lehmann (15. Mai 2002, MV),
  • Andreas Oertel (20./21.3.2003, LSA),
  • Hans-Joachim Sbrzesny (1.8.2008, LSA),
  • Günter Schirmer ( ca. 9_10/1992, Suizid, Nds.) und
  • Marinus Schöberl (13.7.2002, BB).

(Geschichte) extrem rechter Ideologie

In extrem rechter Ideologie gelten Menschen mit Beeinträchtigungen – historisch wie aktuell – als nicht gleichwertig. Die Konstruktion einer ‚völkischen Gemeinschaft‘ zielt ab auf eine biopolitische ‚Reinhaltung‘ eines sogenannten ‚gesunden Volkskörpers‘, der mit ökonomisierten Vorstellungen von gesellschaftlichem Nutzen, Arbeits- und Leistungsfähigkeit einhergeht. Entsprechend schwingt stets mit, dass Menschen mit Beeinträchtigungen gar kein Lebensrecht hätten. Auch sogenannte ‚Lebenstüchtigkeit‘ wie auch ‚Stärke‘ werden Menschen mit Beeinträchtigungen abgesprochen. Zur Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen tritt die implizite oder explizite Behauptung eines ‚Leids‘ an der Behinderung, von dem es ‚folgerichtig‘ zu erlösen gelte.

Stigmatisierungen, Abwertungen wie gesellschaftliche Ausgrenzung sind historisch sehr lang gewachsen. Ein damit verbundenes explizit ökonomisch-menschenfeindliches Kalkül findet sich in Deutschland insbesondere seit der Kaiserzeit. Im historischen Ergebnis: Die grausamen Verbrechen der „Euthanasie“ im NS, des vermeintlich ‚guten, richtigen, schönen Todes‘. Mindestens 300.000 Menschen mit Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen wurden im Zuge des planmäßigen „Euthanasie“-Programms zwischen 1939 und 1945 in Europa insbesondere in den Gastötungsanstalten ermordet; für Osteuropa liegen bislang lediglich Schätzungen vor. Vor 1939 starben in Deutschland bereits seit Sommer 1933 mehrere Tausend Menschen an den Folgen von Zwangssterilisierungen sowie von erzwungenen (späten) Abtreibungen.

Reflektionen zum Aufrufen von NS-Verbrechen

Die NS-Verbrechen an Menschen mit Beeinträchtigungen werden seit dem Ende der Naziherrschaft von extrem rechten TäterInnen als geschichtsrevisionistische Geste der Macht, als demonstrative Drohung und als Ausdruck ihrer verbalen, psychischen sowie körperlichen Gewalt aufgerufen. Sie beziehen sich zustimmend darauf und schaffen gesellschaftliche Anschlussstellen für vermeintlich rechtmäßige ‚eugenische‘ Perspektiven beziehungsweise knüpfen implizit an vorhandene Gesetze an (zum Beispiel „embryopathische“ Indikation im § 218a StGB). Nachlesbar sind die (hier absichtsvoll nicht zitierten Formulierungen) in Presseberichten, in denen Betroffene verbale Attacken der sie Angreifenden wiedergeben: sprachlich-psychische Gewalt, mit der nicht selten physische Übergriffe einhergehen. Es sind ideologische Reminiszenzen an ‚eugenische‘/‚rassenhygienische‘ Bewertungen, an Entmenschlichung und an die „Euthanasie“morde des Faschismus. Das Aufrufen der NS-Verbrechen konstruiert eine Legitimität der Gewalt der TäterInnen in der Gegenwart. Menschen mit Beeinträchtigungen werden mit Bezug zur NS-Geschichte (vermutlich nicht exklusiv) von Nazis mit dem Tode bedroht; diese wünschen ihnen den Tod. Und: Sie wurden und werden von extremen Rechten ermordet.

Zivilgesellschaftliche Thematisierung

In der zivilgesellschaftlichen Liste der Namen von Todesopfern rechter Gewalt, die von der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) geführt wird, stehen sechs Menschen mit Beeinträchtigungen, die von Rechten getötet wurden, darunter ein Verdachtsfall: Jörg Danek, Hans-Werner Gärtner, Bruno Kappi, Klaus Dieter Lehmann, Andreas Oertel und Klaus-Dieter Harms. Von diesen wurden zwei Personen – Danek und Gärtner – staatlich als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt, gleichwohl erst nachträglich im Jahr 2012.

Aktuell wird – so Anna Brausam von der AAS im Gespräch – ein weiterer, lange zurückliegender Verdachtsfall rechter Gewalt in die gerade in Überarbeitung befindliche Liste von Todesopfern der AAS übernommen: Hans-Joachim Heidelberg. Hans-Joachim Heidelberg lebte mit einer kognitiven Beeinträchtigung und wurde 1993 getötet. Angeregt wurde die Neuaufnahme als Verdachtsfall von einer Erinnerungsinitiative in Berlin-Schöneweide, die das dortige Zentrum für Demokratie im 2023 initiierte.

Gleichzeitige oder komplexe Motivlagen?

Thomas Billstein erinnert in seinem Buch „kein vergessen“ (2020) an zwei weitere Menschen, die Opfer rechter Gewalt wurden: Wolfgang Auch wurde aufgrund von „Behindertenfeindlichkeit“ sowie politischer Gegnerschaft getötet. Der Mord wurde später staatlicherseits als rechte Gewalt anerkannt. Wolfgang Auch hatte einen sogenannten Sprachfehler und galt damit vielen als beeinträchtigt. Hinzu kamen ein sehr hoher Alkoholkonsum und eine später diagnostizierte psychische Erkrankung, die von den Tätern anscheinend als kognitive Behinderung wahrgenommen wurde. Das oder die Tatmotive lassen sich hier schwer voneinander trennen, jedenfalls wurden diese Eindrücke von den Tätern als Berechtigung für die Ermordung konstruiert.

Marinus Schöberl, der seine Täter sehr gut kannte, hatte ebenfalls eine ihm eigene Sprechweise und galt als ‚lernbeeinträchtigt‘. Das Detail der Lernbeeinträchtigung wird zwar von Erinnerungsakteur*innen teilweise erwähnt, als Tatmotiv jedoch zumeist ausschließlich Antisemitismus angegeben. Auch in der Medienberichterstattung fällt auf, dass die Lernbeeinträchtigung benannt wird, aber als mögliches Tatmotiv oder für die Tat eskalierend nicht in Erwägung gezogen wird.

Andreas Oertel.

Fotonachweis: Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt im Rahmen der Kampagne „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“

Gleichzeitige oder komplexe Motivlagen sind ebenso für weitere rechte Morde noch zu überdenken: Ibrahim D. wurde möglicherweise aufgrund von drei, vermutlich intersektional ineinandergreifenden Motiven von einem Anhänger der türkischen „Grauen Wölfe“ getötet: weil Ibrahim D. Kurde war und damit auch als politischer Gegner galt, außerdem aufgrund seiner sehr kleinen Gestalt aus einem behindertenfeindlichen Motiv, wie Thomas Billstein notiert.

Am 20.3.2013 mobilisierte die Linksjugend im Burgenlandkreis zu einer Mahnwache zum Gedenken an Andreas Oertel auf dem Naumburger Marktplatz. Später fand eine Gedenkveranstaltung an seiner ehemaligen Wohnung statt: Es wurden Blumen niedergelegt wurden und Jan Wagner (MdL) hielt eine mahnende Ansprache.

Fotonachweis: DIE LINKE Burgenlandkreis

Komplex ist die mögliche Motivlage bei folgenden Todesopfern: Andreas Oertel hatte eine kognitive Beeinträchtigung und war schwul; ihm wurden fälschlicherweise pädokriminelle Täterschaft sowie die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen unterstellt. Für die Mörder an Hans-Joachim Sbrzesny soll dessen Obdachlosigkeit tatmotivierend gewesen sein. Hans-Joachim Sbrzesny lebte mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung. Die Mobile Opferberatung in Sachsen-Anhalt recherchierte, entwickelte und publizierte Materialien für die Politische Bildungsarbeit; außerdem setzt sie sich für einen Gedenkort und eine öffentliche Debatte ein . Der Mord wurde als „sozialdarwinistisch“ motiviert eingeordnet. Im Fall des ermordeten Bruno Kappi wird kurz nach der Tat in der Siegener Zeitung noch darauf hingewiesen, dass dieser als Vierjähriger schwer erkrankte und in der Folge eine kognitive Beeinträchtigung hatte. Zudem erblindete er auf einem Auge, das andere hatte kaum mehr Sehkraft. In den späteren und in den aktuellen Berichten fehlt das Detail der kognitiven Beeinträchtigung. Diese dürfte ihm aber vermutlich anzumerken gewesen sein – und auch den beiden extrem rechten Tätern ist dies sicherlich nicht verborgen geblieben.

Bei genauerer Betrachtung der zivilgesellschaftlich geschilderten Tatverläufe der zehn beziehungsweise elf Morde fällt auf, dass Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen nur selten explizit als Motiv rechter Gewalt genannt wird.

Ebenfalls zeigt sich, dass in den Dokumentationen ein (mögliches) Tatmotiv in den Vordergrund gestellt wird. Dabei scheint aus dem Blick zu geraten, dass mehrere Motive gleichzeitig und mehrdimensional ineinandergreifen können. Diese hier sichtbar gemachte Gleichzeitigkeit und Mehrdimensionalität möglicher Motivlagen gilt es bei allen Todesopfern – mit und ohne Beeinträchtigung – zu untersuchen. Ebenfalls ist geschlechterreflektierend danach zu fragen, ob und inwiefern das lesbare Geschlecht der Todesopfer eine Rolle für die Tatmotivlagen beziehungsweise den Tathergang spielte und welche Relevanz der geschlechtlichen Selbstrepräsentation der bislang ermittelten, ausnahmslos männlichen Täter zukommt. Notwendig ist hierfür eine männlichkeitskritische Perspektive.

Noch nicht fokussiert wurden bislang indirekte Todesfälle, also Suizide in Folge extrem rechter, verbaler, psychischer Gewalt wie im Fall von Günter Schirmer, der durch einen Unfall Rollstuhlfahrer wurde. Schirmer nahm sich 1992 im Alter von 46 Jahren das Leben, nachdem ihn Schüler(innen?) wiederholt mit extrem rechten Aussagen beleidigten, durch massives Bespucken erniedrigten und zudem mit dem Tode bedrohten, indem sie die NS-Verbrechen heraufbeschworen – ein Grund mehr solche Formulierungen nicht als Zitat zu reproduzieren.

Doing Memory vor allem von Erinnerungsinitiativen

Die notwendige Voraussetzung für Doing Memory an Todesopfer rechter Gewalt wurde zunächst von lokalen antifaschistischen Initiativen geschaffen, in dem diese Namen, Daten sowie teilweise Tatorte und Hergang dokumentierten. Mit der Gründung der AAS 1998 wurde vermutlich die erste bundesweite Liste von Todesopfern seit 1990 recherchiert und veröffentlicht. Ähnlich wie die Stiftung verweisen bis heute weitere antifaschistische und journalistische Recherchen (etwa die Langzeitprojekte von Tagesspiegel und Frankfurter Rundschau seit 2000 und nachfolgend von Tagesspiegel und Zeit Online seit 2010) auf die Diskrepanz zwischen den Zahlen staatlich anerkannter und zivilgesellschaftlich gezählter Todesopfer sowie Verdachtsfälle rechter Gewalt.

Sprühkreideschriftzug für „Jörg Danek – Niemand wird vergessen! In Erinnerung an alle Todesopfer rechter Gewalt“ am 29.12.2015 in Halle-Neustadt am S-Bahn-Ausgang. An Passant*innen wurden Flyer verteilt, mit denen auch versucht wurde, Angehörige und Freund*innen von ihm zu finden.

Fotonachweis: Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt im Rahmen der Kampagne „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“

Auf der Grundlage der zivilgesellschaftlichen Dokumentationen und teilweise von Beiträgen aus der Wissenschaft, konnte immer wieder Doing Memory für Todesopfer rechter Gewalt angestoßen werden. Beraten und begleitet wurden solche Initiativen teilweise von Opferberatungsstellen, die ab 2002 in ostdeutschen Bundesländern eingerichtet wurden und inzwischen bundesweit angefragt werden können.


Erstes öffentliches Gedenken mit Blumen und Kerzen für Jörg Danek am 29.12.2015 in Halle, oberhalb des S-Bahnhofs Halle-Neustadt in der Nähe des Tatortes 1999. An der Versammlung beteiligten sich 20 Menschen.

Fotonachweis: Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt im Rahmen der Kampagne „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“

Doing Memory für Menschen mit Beeinträchtigungen, die von extrem rechten TäterInnen ermordeten worden sind, wurde exklusiv von Erinnerungsinitiativen initiiert: direkt nach den Morden oder auch mit deutlichem zeitlichem Abstand. Allen hier genannten Todesopfern rechter Gewalt, die eine Beeinträchtigung hatten, wird online auf zivilgesellschaftlichen Gedenkportalen namentlich oder mit Kurzporträts gedacht, zum Beispiel Niemand ist vergessen und Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt. Für sieben Personen fanden weitere Formen von Doing Memory einmalig oder mehrfach statt: Demonstration, Kundgebungen, Mahnwache, Kranzniederlegung, stilles Gedenken, Namensgraffitti, Filmdokumentationen, Theaterstück, Hörspiel, Gedenktafel, Mahnmal. Akteur*innen des Erinnerns sind insbesondere antifaschistische Gruppen, der VVN-BdA, linke Parteien, Bürgerinitiativen, eine Opferberatungsstelle und ein Demokratiezentrum.

Beispielweise lud das Zentrum für Demokratie in Berlin-Schöneweide im Herbst 2023 zu einem Erinnerungsworkshop für den bereits erwähnten Hans-Joachim Heidelberg ein. Heidelberg war ein 28-jähriger, kiezbekannter Berliner mit S-Bahn-Passion und einer leichten kognitiven Beeinträchtigung. Am 24. Oktober 2023, dem 30. Todestag, veranstaltete die aus dem Workshop entstandene Initiative ein stilles Gedenken mit einem Infoschild, Blumen und Kerzen am S-Bahnhof Schöneweide, dem Ort, an dem der junge Mann nachts getötet wurde – möglicherweise von extrem rechten TäterInnen. Die weiterhin bestehende Erinnerungsinitiative setzt sich für ein Gedenkzeichen im Kiez ein.

Aufmacher der Titelseite der BZ am 27.10.1993 mit einem Foto von Hans-Joachim Heidelberg.

Nachweis: Axel Springer Syndication GmbH

Bevor diese Initiative ihre Aktivitäten aufnahm, wurde Hans-Joachim Heidelberg bereits mit seinem Namen, also ohne weitere Angaben auf dem Online-Portal der Berliner Gedenkkampagne für die Opfer rechter Gewalt Niemand ist vergessen gedacht. Wenige Tage nach der Tötung von Hans-Joachim Heidelberg am S-Bahnhof Schöneweide 1993 hielten Antifaschist*innen und nachbarschaftliche Aktivist*innen der ersten Kundgebung ein Transparent mit der Aufschrift „Hier wurde am 24. Hans-Joachim brutal ermordet! Er wurde getötet, weil er behindert war“ – Doing Memory in Form einer politischen Aktion. Auch 20 Jahre später fand eine antifaschistische Demo zu seinem Gedenken statt. Im Vergleich zu den anderen Morden fällt auf, dass Behindertenfeindlichkeit als Motiv von zivilgesellschaftlichen Gruppen explizit benannt wird.

Seit 2012 hält das Siegener Bündnis für Demokratie die Erinnerung an Bruno Kappi wach. Kappi war ein Lagerarbeiter mit starker Sehbeeinträchtigung sowie einer kognitiven Beeinträchtigung. Am 15. Dezember 1992 ermordeten Naziskins in Siegen Bruno Kappi auf seinem Weg zur Arbeit. In einem mehrjährigen Prozess setzte sich das Bündnis dafür ein, dass am Ort, an dem Bruno Kappi ermordet wurde, ein Mahnmal steht. 2024 kann es eingeweiht werden.

Stilles Gedenken an Hans-Joachim Heidelberg am Berliner S-Bahnhof Schöneweide am 24.10.2023.

Abbildungsnachweis: Katja Sternberger, Zentrum für Demokratie Treptow-Köpenick, offensiv’91 e.V.

Doing Memory für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen – Fragen von Stellvertretung und Selbstrepräsentation

Es sind erinnerungspolitische Initiativen und politische Gruppen, die gesellschaftlich Verantwortung übernehmen, die keine Ruhe geben, die immer weiter recherchieren und der getöteten Menschen gedenken. Das ist an sich schon bemerkenswert und bedeutsam, aber umso wichtiger für das – auch (mit) stellvertretend initiierte – Gedenken an Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die von extremen Rechten ermordet wurden. Denn sie sind selbst oftmals wenig oder auch gar nicht in der Lage, Initiativen zu gründen oder anders politischen Druck aufzubauen. Die gesellschaftliche Marginalisierung spiegelt sich in ihrem Nicht-gehört werden ebenso wie im fehlenden öffentlichen Doing Memory. Die Möglichkeiten vieler Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen dafür sind begrenzt, meist auch aus strukturellen Gründen beziehungsweise aufgrund eingeschränkter Ressourcen. Dies gilt ähnlich für Angehörige, für nicht-behinderte Freund*innen, sofern die Bedingungen gesellschaftlich-struktureller Besonderung beziehungsweise inadäquater Inklusion Freund*innenschaften überhaupt entstehen lässt. Fragen von Selbstrepräsentation stellen sich hier demnach anders. Daher braucht es kreative und kluge Ideen für die Einbindung auch von Menschen mit kognitiven Einschränkungen, damit sie an Erinnerungsinitiativen partizipieren und Doing Memory selbst gestalten können, und es werden Ideen benötigt, wie entsprechende Selbstorganisierungsprozesse angestoßen und – sofern nötig, begleitet werden können. Denn auch kognitive Beeinträchtigungen beziehungsweise die mit ihnen einhergehenden Lebensrealitäten sind sehr unterschiedlich.

Es sind jedenfalls die politischen Initiativen, die mit ihrem Doing Memory die Namen der Betroffenen mit (kognitiven) Beeinträchtigungen in Erinnerung halten und dabei gleichzeitig versuchen, Disablism, Behindertenfeindlichkeit als Tatmotiv extrem rechter Gewalt sichtbar zu machen und damit zumindest indirekt auch die Bedeutung der historischen Kontinuität der Gewalt für notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzungen betonen und die versuchen Debatten anzustoßen, auch über (postnazistische?!) Widerstände und Abwehr hinweg.

Literaturhinweise

Biermann, Pieke: Endstation Schöneweide. Berliner Verbrechen. Krimi-Autorin Pieke Biermann erzählt wahre Fälle. In: Tagesspiegel. Nr. 18, 985, 15.10.2005, S. 11.

Billstein, Thomas: kein vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945. Münster: Unrast 2020.

dibi/kall: Opfer auf der Schattenseite des Lebens. In: Siegener Zeitung 19.12.1992.

Forster, Rudolf: Von der Ausgrenzung zur Gewalt. Rechtsextremismus und Behindertenfeindlichkeit – eine soziologisch-sonderpädagogische Annäherung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2002.

Maskos, Rebecca: Behinderte Subjekte als „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“. Oder: Schlaglichter auf einen nicht-reduktionistischen Materialitätsbegriff in den Disability Studies. In: Zeitschrift für Disability Studies 1 (Februar) 2022, DOI 10.15203/ZDS_2022_1.06.

Steiner, Gusti: „Bei den Nazis wärst du längst vergast worden…“. Übergriffe auf Behinderte – Eine Analyse. In: Gemeinsam leben 1/1993, S. 4-8.

Teidelbaum, Lucius: Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus. Münster: Unrast 2013.

Thomas, Carol: Times Change, but Things Remain the Same. In: Disability & Society, Jg. 34, Nr. 7/8, 2019, S. 1040f.

Weiterführende Links

Amadeu Antonio Stiftung: Todesopfer rechter Gewalt. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/

Niemand ist vergessen. Gedenkkampagne für die Opfer rechter Gewalt. Berlin. https://berlin.niemandistvergessen.net/

Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt: Rechte Gewalt Sachsen-Anhalt. https://www.rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de/todesopfer/

Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. https://www.bundestag.de/resource/blob/488084/d91b41cac0fd7945180acbccc27454b6/euthanasie-morde-im-nationalsozialismus-data.pdf

Zentrum für Demokratie Schöneweide.
https://www.zentrum-für-demokratie.de/index.php/aktuelles?start=20
https://www.zentrum-für-demokratie.de/index.php/aktuelles/492-dienstag-24-10-stilles-gedenken-an-hans-joachim-h

Nachweise von Fotos und Abbildungen

Abbildungen zu Andreas Oertel

Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt im Rahmen der Kampagne „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“

DIE LINKE Burgenlandkreis

Abbildungen zu Jörg Danek

Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt im Rahmen der Kampagne „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“

Abbildungen zu Hans-Joachim Heidelberg

Axel Springer Syndication GmbH

Eric Richard (Berlin)

Katja Sternberger, Zentrum für Demokratie Treptow-Köpenick, offensiv’91 e.V.

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