Vom Kraftakt, um Erinnerung zu kämpfen – Şahin Çalışır

An den Tod von Şahin Çalışır erinnert diese Podcastfolge. Mit unseren Gästen Orhan Çalışır und Kutlu Yurtseven sprechen wir über Wut als Antrieb zum Protest gegen Rassismus, die Bedeutung migrantischer Kämpfe und Selbstorganisation, über Familienkontexte und die schwierige Erwartung, dass Betroffene sich öffentlich und politisch in Kämpfe um Anerkennung und Erinnerung einbringen.  

Zum Ereignis

Der 20-jährige Şahin Çalışır war am frühen Morgen des 27. Dezember 1992 mit zwei Freunden unterwegs, als ein mit Neonazis besetztes Fahrzeug sie auf der Autobahn 57 bei Meerbusch in Nordrhein-Westfalen verfolgte und rammte. Die drei Opfer verließen in Angst den PKW; kurz darauf wurde Şahin Çalışır von einem vorbeifahrenden Auto erfasst und starb an den Verletzungen. 

Literatur, Links und Hintergründe

Ramazan Avcı wurde am 21. Dezember 1985 in Hamburg-Eilbek von Neonazis überfahren und so schwer mit Keulen-Schlägen geschlagen, dass er drei Tage später seinen Verletzungen erlag.  

Bei einem Brandanschlag in Duisburg-Wanheimerort, starben in der Nacht vom 26. auf den 27. August 1984 Döndü Satır, (40 Jahre alt), Zeliha und Rasim Turhan (18 Jahre alt) und deren Sohn Tarık Turhan (1 Monat alt), Çiğdem Satır (7 Jahre alt), Ümit Satır (5 Jahre alt) und Songül Satır (4 Jahre alt).   

Am 23. November 1992 ermordeten zwei Neonazis in Mölln bei einem Brandanschlag Bahide Arslan (51 Jahre alt), Yeliz Arslan (10 Jahre alt) und Ayşe Yılmaz (14 Jahre alt). Als damals 7-Jähriger überlebte Ibrahim Arslan die Tat und setzt sich heute als Aktivist in der Antirassismus-Arbeit ein. 

In Solingen sterben bei einem Brandanschlag in den Morgenstunden des 29. Mai 1993 Gürsün İnce (27 Jahre alt), Hatice Genç (18 Jahre alt), Gülüstan Öztürk (12 Jahre alt), Hülya Genç (9 Jahre alt) und Saime Genç (4 Jahre alt).  

Mehr zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen erfahrt ihr in unserer Podcast-Folge zum Thema. 

Zwischen dem 17. und 23. September 1991 ereigneten sich in der sächsischen Stadt Hoyerswerda unter dem Applaus von Anwohnenden mehrere rassistisch motivierte Übergriffe auf Wohnheime für Vertragsarbeitende und Geflüchtete.  

Am 9. Juni 2004 detonierte in der Köln-Mülheimer Keupstraße eine Nagebombe, die 22 Menschen teils schwer verletzte. Der Anschlag konnte erst nach seiner Selbstenttarnung im November 2011 dem rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeordnet werden.  

Der NSU ermordete seit 2000 mit der immer selben Waffe: Enver Şimşek (38 Jahre alt) – ermordet am 9. September 2000 in Nürnberg, Abdurrahim Özüdoğru (49 Jahre alt) – ermordet am 13. Juni 2001 in Nürnberg, Süleyman Taşköprü (31 Jahre alt) – ermordet am 27. Juni 2001 in Hamburg, Habil Kılıç (38 Jahre alt) – ermordet am 29. August 2001 in München, Mehmet Turgut (25 Jahre alt) – ermordet am 25. Februar 2004 in Rostock, İsmail Yaşar (50 Jahre alt) – ermordet am 9. Juni 2005 in Nürnberg, Theodoros Boulgarides (41 Jahre alt) – ermordet am 15. Juni 2005 in München, Mehmet Kubaşık (39 Jahre alt) – ermordet am 4. April 2006 in Dortmund, Halit Yozgat (21 Jahre alt) – ermordet am 6. April 2006 in Kassel. 

Bereits 2006 gingen Angehörige von neun Ermordeten auf die Straße und forderten „Kein 10. Opfer!” bei den Demonstrationen in Dortmund und Kassel. Denn sie glaubten an ein rassistisches Mordmotiv, das von den Ermittlungsbehörden nicht verfolgt wurde. 

Beim Tribunal in Köln im Mai 2017 klagt das bundesweite Aktionsbündnis ‚NSU-Komplex auflösen’ strukturellen Rassismus an, fordert eine lückenlose Aufklärung des NSU-Komplexes und lädt zur Beschäftigung mit Erinnerungskultur und Betroffenen rechter Gewalt ein.  

In der Nacht vom 5. auf den 6. März 2021 starb der 19-jährige Qosay Khalaf in Delmenhorst durch ungeklärte Umstände in Polizeigewahrsam. 

Bei einem Brandanschlag in Lübeck sterben 10 Menschen, darunter sieben Kinder und Jugendliche: Monica (Maiamba) Bunga und ihre siebenjährige Tochter Suzanna (Nsuzana), Françoise Makudila und ihre fünf Kinder Christine, Miya, Christelle, Legrand und Jean-Daniel Makudila, der siebzehnjährige Rabia El Omari und der 27-jährige Sylvio Amoussou.  

Argyris Sfountouris überlebte als Vierjähriger das Massaker von Distomo, bei dem am 10. Juni 1944 deutsche SS-Angehörige 218 Bewohner:innen des griechischen Dorfes töteten. 

«Kein Einzelfall» von Microphone Mafia, Refpolk, Mal Eleve und Chaoze One. 

Esther Bejarano war eine Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und arbeitete über mehrere Jahre und Konzerte hinweg mit der Band Microphone Mafia zusammen. 

Amadeu Antonio Stiftung (2021): Şahin Çalışır.

Çalışır, Orhan (2020): Erinnerung an Şahin Çalışır. Video.

Solingen ist bunt (2020): Erinnerung an den Tod von Şahin Çalışır.

Karavana (2020): In Gedenken an Şahin Çalışır.

Taz (1993): Tödliche Hetzjagd als schlichte „Verkehrssache“.

Informationen zur Kampfsportschule Hak Pao: Jelpke, Gysi (1993).

Credits

Redaktion: Tanja Thomas, Fabian Virchow und Tobias Fernholz  
Kokonzeption und Produktion: grasshopper kreativ  
Moderation: Tanja Thomas und Fabian Virchow 
Begleitmusik: Martin Pfeilsticker und Pia Fruth 

Titelbild: ein Foto von Şahin Çalışır mit freundlicher Genehmigung von Orhan Çalışır. Collage: grasshopper kreativ.

Den Ereignisrückblick haben Master-Studierende der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Hochschule Düsseldorf produziert.

Credits Ereignisrückblick

O-Ton-Geber: Orhan Çalışır 
Sprecherin: Pia Fruth
Studierende: Stina Rieke, Johannes Wacha, Laura Embach, Madlen Bocklet, Alicia Schweizer, Annika Schmidt